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Flexkögel: Wilde Gezeiten
Flexkögel - Wilde Gezeiten

„Wilde Gezeiten sind keine Kleinigkeiten“ reimen Flexkögel. Auf dem Album dazu, dem famosen Zweitling der Sängerin Britta-Ann Flechsenhar und des

Gitarristen Christian Kögel, geht es nicht nur wild zu. Sondern auch noch wilder. Und das ziemlich gelockert und genüsslich. Gemeinsam mit dem Schlagzeuger und Perkussionisten Jochen Krämer haben die beiden Berliner neun nagelneue, meist eigene Lieder eingespielt und aufgenommen. Eins auf englisch, eins in traumhaftem Fantasieportugiesisch und sieben auf Deutsch. Dass sie nicht nur die Muttersprache, sondern auch mehr denn je die Bossa Nova für sich und ihre Lieder entdeckt haben, sitzt, passt, wackelt und macht Luft. Genau fünfzig Jahre nachdem Antonio Carlos Jobim, João Gilberto und Vinicius de Moraes mit all ihrer Saudade die Mädchen von Ipanema und die Menschen der Welt beglückten, überraschen Flexkögel mit sinnlichen und satirischen Sommersongs für jede Jahreszeit. Noch etwas verbindet die Musik dieser jazzverliebten Popmusikanten mit der brasilianischen Jubiläumsmusik: „Wilde Gezeiten“ sind federleicht und verführerisch an der Oberfläche, dabei prallvoll mit musikalischen und lyrischen Untiefen. Und auch die dezenten Zitate aus der Jazz-, New Wave-, Soul- und neueren deutschen Hip Hop-Historie machen Lust und Laune. Die Frage, ob man sich darauf einlässt oder darin fallen lässt, stellt sich eigentlich schon nach dem ersten Anhören nicht mehr. Dann ist man eh schon drin. Das Titelstück „Wilde Gezeiten“ beginnt mit Regenprasseln und endet im wehenden Wüstenwind. Der schlurfende Blues ist ein Abgesang auf den Klimawandel, auf verrinnende Golfströme und schmelzende Gletscher, tränentief und süffisant lächelnd gesungen, mit gelegentlichen Böen vom Himmelhochjauchzen über marilyneske Koketterie bis zum gepflegten Absturz. Die ätherischen Chöre ziehen sich regelrecht

in die „Raumfahrt“ hinüber, eine wunderschöne Bossa Nova mit überirdischer Melodie und herrlichem Hook. Das Fazit „Besser langweilig als ganz allein“ gibt diesem Lied über die erdverbundene Liebe im Weltraum den Rest. „What Are Days For?“, einst Titelsong des Debüts von Flexkögel, ist die völlig neue

musikalische Bearbeitung eines Gedichts von Philip Larkin. Die Frage an sich, konstatiert Larkin, schlägt Priester und Doktor gleichermaßen in die Flucht. Gut, dass Britta-Ann Flechsenhars Vokalharmonien die beiden sirenengleich zurücklocken. (Toller Song, nebenbei.) Im originell hineingesteigerten „Forever Young“ treffen Alphavilles gleichnamiger Synthie Pop-Hit und ein James Bond-Filmtitel auf schwierigen Alterswahn und jugendlichen Leichtsinn. Letzterer schwingt auch in „Picknick“ mit, einem charmanten Tag im Park, perfekt mit fauler Gitarre und räkelndem Gesang. „Why doesn’t he stop“ ist ein mitreißender anglo-germanischer Soulsong zwischen sanften Singer/Songwriter-Passagen und orgasmischen Ausbrüchen. Textlich geht es um Verkehrs- und Generationskonflikte, könnte man sagen. Billie Holidays himmlisch hallendes „Everything Happens To Me“ eröffnet die Beziehungstragikomödie „John und Jane“, Flexkögels sehr eigene Interpretation dieses Standards. Intim und ein wenig sentimental klingen die „Innenwelten“, bevor die Engelschöre den fantastischen „Traum“ einleiten, eine besinnliche Bossa Nova am ausglimmenden Stimmlagerfeuer. Und dann war’s das. Noch lange nicht. Denn dann fängt man am besten wieder von vorne an, mit „Wilde Gezeiten“. Mit ungezügelter Muße und leidenschaftlicher

Melancholie lebt es sich doch immer noch am besten.


Tschechisch
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